Fast jeder macht mal etwas, wovon er oder sie weiß: Das ist eigentlich übertrieben und gar nicht nötig – etwa vor einer Reise zweimal zu kontrollieren, ob der Herd auch wirklich aus ist. Es gibt aber Menschen, die zum Beispiel Kontrollhandlungen zwanghaft ausführen. Zwanghaft bedeutet: Wenn sie die Handlung nicht ausführen, fühlen sie sich unwohl, unter Druck oder bekommen Angst.
Ein solcher Zwang kann so stark werden, dass er mit der Zeit das ganze Leben bestimmt. Es gibt verschiedenste Formen von Zwangsstörungen. So waschen sich manche Menschen dauernd die Hände. Andere müssen ständig Dinge zählen, die Wohnung putzen oder denselben Gedanken wälzen. Welches Ritual auch immer jemand entwickelt hat: Menschen mit einer Zwangsstörung schaffen es nicht, damit aufzuhören.
Bei einer Zwangsstörung können sowohl Zwangsgedanken als auch Zwangshandlungen auftreten. Bei zwanghaften Gedanken spielen sich die unangenehmen Wiederholungen im Kopf ab. Sie drängen immer wieder ins Bewusstsein und sind kaum abzuschütteln. Sie werden oft als quälend erlebt und lassen sich willentlich nur schwer unterdrücken.
Typische Zwangsgedanken sind zum Beispiel die andauernde Angst vor Keimen und Infektionen oder davor, etwas vergessen zu haben oder sich unangemessen zu verhalten. Manche Menschen haben auch die zwanghafte, angstmachende Vorstellung, sie könnten anderen oder sich selbst schaden oder jemanden sexuell belästigen. Solche Zwangsgedanken zu haben, bedeutet aber nicht, so etwas auch wirklich zu tun.
Zwangshandlungen sind mit Tätigkeiten verbunden. Es sind bestimmte Rituale, die Betroffene immer und immer wieder ausführen. Sie versuchen so, bedrohliche Gedanken loszuwerden und sich wieder sicherer zu fühlen. Manche Menschen, die Angst vor Schmutz haben, waschen sich zum Beispiel andauernd die Hände oder putzen ständig ihre Wohnung. Menschen mit Ordnungszwang haben für sich selbst eine feste Vorstellung davon entwickelt, wie Dinge angeordnet und sortiert sein müssen. Jede andere Art der Ordnung macht sie nervös. Menschen mit Sammelzwang können nichts wegwerfen. Das kann so weit gehen, dass sie nicht einmal mehr Müll entsorgen können. Typisch ist auch der Zählzwang: Wer davon betroffen ist, findet zum Beispiel beim wiederholten Zählen bis 20 für kurze Zeit Ruhe. Wenn Menschen mit einer Zwangsstörung versuchen, diese Handlungen zu unterdrücken, werden sie unruhig, angespannt und angsterfüllt.
Betroffene erleben ihre Zwangsgedanken und Zwangshandlungen selbst als übertrieben oder nicht sinnvoll. Das belastet und verängstigt. Viele fühlen sich machtlos, die Zwänge zu unterlassen oder zu kontrollieren. Das verstärkt ihre Angst. Manche fürchten deshalb, dass sie „verrückt“ werden könnten.
Es gibt wahrscheinlich viele Gründe dafür, dass manche Menschen eine Zwangsstörung entwickeln. Vermutlich wirken dabei anlagebedingte, psychische und äußere Umstände zusammen. Manchmal kann ein Zwang durch ein belastendes Lebensereignis oder eine schwere Krise ausgelöst werden. Manche Menschen mit einer Zwangsstörung sind in ihrer Kindheit schwer traumatisiert worden, zum Beispiel durch Misshandlungen oder den plötzlichen Tod eines nahen Angehörigen. Auch bestimmte Charaktereigenschaften begünstigen möglicherweise die Entstehung von Zwängen. Manche Menschen mit einer Zwangsstörung neigen zum Beispiel eher dazu, besonders verantwortungsvoll und gewissenhaft zu sein – und sie haben schnell Angst, etwas falsch zu machen.
Eine familiäre Vorbelastung könnte ebenfalls die Entstehung von Zwangsstörungen beeinflussen. Oft gibt es mehrere Familienmitglieder mit Zwangsgedanken oder -handlungen. Die Ursachen können jedoch bei jeder betroffenen Person andere sein.
Zwangsstörungen kommen relativ häufig vor: Schätzungen zufolge haben bis zu 3 von 100 Menschen im Laufe ihres Lebens damit zu tun. Grundsätzlich kann sich in jedem Alter eine Zwangsstörung entwickeln. Oft beginnt sie aber schon bei Kindern, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen.
Für gewöhnlich dauert es längere Zeit, bis eine Zwangsstörung bemerkt wird. Denn Zwänge entwickeln sich nicht von heute auf morgen. Vielen Betroffenen erscheint ihr Verhalten zunächst nicht ungewöhnlich, bis ihnen irgendwann auffällt, wie viel Zeit ihre Rituale in Anspruch nehmen. Manche bekommen dadurch auch Probleme im Beruf, in der Familie oder Partnerschaft und schaffen es kaum noch, ihren Verpflichtungen oder Hobbys nachzugehen. Die Zwänge fangen an, ihr Leben zu bestimmen.
Eine Zwangsstörung kann unterschiedlich verlaufen. Unbehandelt wird sie oft chronisch, wobei die Beschwerden mal mehr, mal weniger ausgeprägt sein können. Manche Menschen erleben auch Phasen, in denen sie der Zwang „in Ruhe“ lässt. Außerdem kann sich die Art der Zwänge mit der Zeit verändern.
Im Erwachsenenalter sind Zwangsstörungen oft weniger hartnäckig als bei Kindern und Jugendlichen. Wenn eine Zwangsstörung unbehandelt bleibt, geht es nach fünf Jahren 4 von 10 Heranwachsenden besser. Viele Menschen benötigen aber professionelle Hilfe, um ihre Zwänge in den Griff zu bekommen.
Ob jemand eine Zwangsstörung oder eine andere Störung mit ähnlichen Symptomen hat, ist manchmal schwierig festzustellen. Der Besuch in einer ärztlichen oder psychotherapeutischen Praxis ist wichtig, um eine verlässliche Diagnose zu bekommen. Der erste Schritt dazu ist es, herauszufinden, wie die Zwangsgedanken oder -handlungen konkret erlebt werden und was alles dazu gehört. Dazu stellt die Therapeutin oder der Therapeut verschiedene Fragen wie:
Die medizinische Diagnose „Zwangsstörung“ setzt voraus, dass die Zwänge über mindestens zwei Wochen an den meisten Tagen auftreten oder den Alltag deutlich beeinträchtigen. Manchmal gibt es auch körperliche Anzeichen, die auf eine Zwangsstörung hinweisen können, zum Beispiel sehr trockene Haut bei Menschen mit einem Waschzwang.
Vor einer Diagnose wird auch nach Anzeichen für andere Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen gefragt. Wer sich etwa die ganze Zeit übertriebene Sorgen um alles Mögliche macht, könnte auch eine generalisierte Angststörung haben.
Eine Zwangsstörung kann außerdem zusammen mit anderen psychischen Problemen oder Erkrankungen auftreten. Viele Menschen mit einer Zwangsstörung haben gleichzeitig Depressionen.
Eine Zwangsstörung lässt sich nicht „heilen“. Mit guter professioneller Unterstützung können die Beschwerden aber auf ein erträgliches Maß verringert werden, sodass ein normales Leben wieder möglich ist.
Menschen mit Zwangsstörungen wird meist eine Psychotherapie empfohlen. Für sie eignet sich besonders die kognitive Verhaltenstherapie (KVT). In Deutschland wird sie von Verhaltenstherapeutinnen und -therapeuten angeboten.
Ergänzend zu einer KVT, oder wenn eine Psychotherapie (noch) nicht möglich ist, kommen Medikamente infrage, die auch gegen Depressionen eingesetzt werden (Antidepressiva). Dazu gehören vor allem sogenannte selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI).
Zusätzlich zu diesen Behandlungen gibt es Möglichkeiten zur Selbsthilfe, zum Beispiel der Austausch mit anderen Betroffenen in einer Selbsthilfegruppe. Manchen Menschen helfen auch gute Informationen aus Büchern oder Websites, sich mit ihren Zwängen auseinanderzusetzen. Andere versuchen, ihre Beschwerden mit Entspannungstechniken wie Meditation, autogenem Training oder Atemübungen in den Griff zu bekommen.
Zwänge sind belastend und können sehr zeitraubend sein. Sie können so weit führen, dass man sich mit fast nichts anderem mehr beschäftigt und ein normaler Alltag unmöglich wird. Hinzu kommt, dass sich Menschen mit einer Zwangsstörung oft für ihre Gedanken oder ihr Verhalten schämen. Sie versuchen, ihre Zwänge zu verheimlichen, da diese für andere irritierend sein können. Auch das ist meist sehr anstrengend.
Viele Menschen haben Hemmungen, sich Hilfe zu holen und anderen von ihrem Problem zu erzählen. Einige haben auch Angst davor, was es für ihren Beruf oder ihre Familie bedeuten könnte, als „psychisch krank“ zu gelten. Allerdings berichten viele Betroffene nach einer Therapie, dass sie sich besser schon früher Hilfe gesucht hätten.
Eine Zwangsstörung stellt auch die Familie vor Herausforderungen und kann zu Konflikten führen. Angehörige können sich zum Beispiel genötigt sehen, die Zwangshandlungen ebenfalls auszuführen, um die oder den Betroffenen nicht aufzuregen oder zu verängstigen – zum Beispiel, eine bestimmte Ordnung einzuhalten.
Vor allem Eltern haben oft auch ein schlechtes Gewissen, weil sie denken, dass sie schon früher hätten merken müssen, dass ihr Kind ein Problem hat.
Allgemein ist es aber normal, dass es lange Zeit dauern kann, bis man eine Zwangsstörung bemerkt – nicht zuletzt, weil Betroffene versuchen, ihre Zwänge lange Zeit zu verheimlichen. Andere erkennen selbst nicht, dass sie eine Zwangsstörung haben und lehnen deshalb jedwede Hilfe ab.
Die Familie kann für Menschen mit einer Zwangsstörung aber eine wichtige Unterstützung sein, weil Angehörige die Erkrankung vielleicht besser verstehen als fremde Personen. Wenn sie in die Behandlung eingebunden werden, können sie manchmal sogar helfen, sich den Ängsten und Zwängen zu stellen. Dies kann besonders nach Abschluss einer Behandlung hilfreich sein, um einen nachhaltigen Therapieerfolg zu ermöglichen.
Die Hausarztpraxis ist meist die erste Anlaufstelle, wenn man krank ist oder bei einem Gesundheitsproblem ärztlichen Rat braucht. Wir informieren darüber, wie man die richtige Praxis findet, wie man sich am besten auf den Arztbesuch vorbereitet und was dabei wichtig ist.
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Aktualisiert am 14.07.2021
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