Nur noch wenige Tage, dann wird wieder an der großen Jahreszahl gedreht und es heißt wieder „Neues Jahr, neues Glück“.
So viele Hoffnungen und Erwartungen knüpfen wir an die neue Jahreszahl. Sie soll alles verändern, soll uns die nötige Motivation geben, um endlich der Zigarette ade zu sagen, eine Sportroutine zu entwickeln, Geld zu sparen, glücklicher zu sein. Am 1.1. geht es los, Tag eins für das neue, bessere Leben. Aber warum ist das so? Warum neigen wir dazu, dem Jahreswechsel so eine Bedeutung zuzuschreiben?
Die Faszination Silvester: Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, schrieb Hermann Hesse in einem seiner wohl berühmtesten Gedichte „Stufen“. Ein Teilsatz, der in unsere Alltagssprache eingegangen ist, sich als Glaubenssatz in der Gesellschaft manifestiert hat und das Gefühl, das uns zum Jahreswechsel zu guten Vorsätzen antreibt, auf den Punkt bringt. Der Mensch braucht den Neubeginn, braucht eine stetige Veränderung. Auch das sagt Hesses Gedicht aus, denn: „Nur wer bereit zu Aufbruch ist und reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“ Doch Aufraffen ist so eine Sache, eine nicht ganz einfache. Und genau deshalb kommt uns der Jahreswechsel so gelegen.
„Mitten im Jahr müssen wir allein mit unseren guten Vorsätzen fertig werden, deswegen kommt uns der Jahreswechsel für Veränderungen so gelegen. Das neue Jahr beginnt für alle und viele Menschen haben gute Vorsätze“, sagt die Psychologin Muriel Böttger. Dass die guten Vorsätze um diese Jahreszeit Konjunktur haben, ist für sie keine Überraschung. In dieser Jahreszeit ist der Druck besonders hoch, weil es gesellschaftlich ein großes Thema ist. „Oft schwingt auch das Gefühl von Müssen mit, weil so viele Menschen Vorsätze haben und die Frage nach den eigenen Vorsätzen zum Jahreswechsel hin sehr präsent ist. Außerdem sorgt das Datum für einen klaren Bruch. Wir hoffen, dass wir Vergangenes loslassen können, und erhoffen uns für die Zukunft Besseres.“ Besonders dann, wenn das Vergangene nicht toll war. Generell suggeriert der Ausdruck „altes Jahr“ in unserem gesellschaftlichen Verständnis etwas Schlechtes. Alt suggeriert Wertverlust, etwas, das überholt ist.
Der Jahreswechsel ist für unsere Gesellschaft eine magische Zeit
Und dann ist das wieder dieser Zauber, der dem Neubeginn etwas Magisches gibt, der der Veränderung einen Hauch Übernatürliches beilegt. „... der uns beschützt und der uns hilft zu leben“, schreibt Hesse. Damit müssen wir gar nicht mehr so viel allein leisten, der Druck sinkt. Ein fataler Fehler, weiß Böttger, denn eigentlich „brauchen wir Willenskraft für Veränderung und nicht das neue Jahr.“
Kein Wunder also, dass so viele gute Vorsätze nach wenigen Wochen wieder verschwunden sind, oder? „Die große Gefahr ist, dass wir uns, auch dem gesellschaftlichen Druck folgend, zu viel auf einmal vornehmen und in unserem Leistungsdruck viele Zwischenschritte überspringen, statt sinnvolle Routinen zu etablieren“, sagt Böttger. Das ist wenig verwunderlich, denn nun liegt ein ganzes Jahr vor uns, 365 Tage, ein wahnsinniger Zeitpunkt, so viel Zeit, um alles anzugehen. Und zugleich eine totale Überschätzung der Zeit. „Es wirkt zunächst wahnsinnig groß, aber wenn wir das Jahr mal herunterrechnen, Arbeitstage, Urlaubstage, Wochenenden und so weiter betrachten, bleibt von einem Jahr gar nicht so viel Zeit“, erklärt Böttger. Und gerade die ersten Wochen vergehen wie im Flug.
Neutral betrachtet ist Neujahr für einen Neubeginn nicht der klügste Zeitpunkt
Nicht wenige haben in das neue Jahr gefeiert und sind erst spät ins Bett gekommen. Vielleicht liegen auch noch ein paar Urlaubstage vor uns und die sind bereits mit Treffen und Aktivitäten verplant, die inhaltlich mit den guten Vorsätzen kollidieren. Ein Beispiel: Die guten Vorsätze gesündere Ernährung, weniger Alkohol und keine Zigaretten im neuen Jahr zu konsumieren, scheitern an drei Verabredungen bei Freunden in der ersten Januarwoche, die ebenfalls rauchen, die Flasche Wein schon geöffnet haben und eines der Lieblingsgerichte auftischen. „Ich darf einfach nicht erwarten, dass das neue Jahr die Arbeit für mich macht“, sagt die Psychologin und empfiehlt, mit einem realistischen Blick auf die guten Vorsätze zu blicken. Denn auch wenn wir sie uns zum neuen Jahr hinsetzen, müssen wir nicht am ersten Tag des Jahres damit starten. „Wir brauchen auch Ablösephasen und Verarbeitungszeit. Man kann auch mit der Veränderung beginnen, indem man als ersten Schritt plant, was man wann verändern möchte und das so konkret wie möglich“, so Böttger.
Schauen wir mal auf die Klassiker unter den guten Vorsätzen: Rauchen, Sport, Ernährung. Wer am 31. Dezember noch eine halbe Schachtel Zigaretten geraucht hat oder nie zum Sport gegangen ist, sollte am ersten Januar nicht das eine hinunterfahren und das andere exzessiv hinauffahren. Es könnte zum Beispiel helfen, sich Etappenziele zu setzen, für den Januar den Zigarettenkonsum zu halbieren und einmal pro Woche Sport zu treiben. „Dann kann man anschließend reflektieren, wie sich das angefühlt hat, Erfolge genießen, spüren, wie es sich anfühlt und überlegen, was der nächste Schritt sein könnte“, sagt Böttger, die sich auf positive Psychologie spezialisiert hat und in ihrem Podcast „Share and Grow“ auch immer wieder ähnliche Themen behandelt.
Warum ist Rückblick besser als Vorsätze?
Schaut man sich die Gewohnheiten von erfolgreichen Menschen an, wird schnell klar, dass Böttgers Tipp mit der Reflexion sinnig ist – vielleicht sogar sinnvoller als die guten Vorsätze. Denn er hilft uns, Fehler zu sondieren, Erfolge zu beachten und realistischer mit unserer Zeit zu haushalten. „Rückblick ist die Grundzutat, um die Zukunft zu gestalten“, sagt Böttger. Außerdem bauen wir mit jedem Tag auf bereits Geleistetes auf und haben uns so bereits Routinen erschaffen. Keine Frage … Manche davon wollen und sollten wir ändern, aber auch das schrittweise und mit dem wirklich guten Vorsatz, uns selbst die Zeit zu nehmen, den Fortschritt wahrzunehmen. Positiv denken. Und zu jeder Jahreszeit bereit sein für Veränderungen, denn: „Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe, bereit zum Abschied sein und Neubeginne …“, schrieb Hermann Hesse und vielleicht sollten wir auch das als Glaubenssatz etablieren.